Deutschland hinkt in Sachen Inklusion hinterher. Aktivist Raúl Krauthausen fordert ein Umdenken und konkrete Maßnahmen, um behinderte Menschen aus dem Schatten der Gesellschaft zu holen. Weniger reden, mehr handeln - das ist sein Appell.
FOCUS online: Herr Krauthausen, hier in Hamburg auf dem diesjährigen Ashoka-Summit sammeln sich zahlreiche Menschen, die sich für soziale Teilhabe engagieren. Fehlt Ihnen das im Alltag? Wie blicken Sie, einer der bekanntesten deutschen Aktivisten für Menschen mit Behinderung, auf die derzeitige Inklusion in Deutschland?
Raúl Krauthausen: Da ist immer ein permanentes Buhlen um Aufmerksamkeit, weil viele andere Themen ebenfalls wichtig sind. Interessant ist, dass behinderte Menschen oft als Letzte genannt oder als Erste vergessen werden. Beim Thema Klimaschutz werden sie oft gar nicht bedacht. Beim Thema Mobilität und Bildung genau das Gleiche und auch in den Medien fällt auf, dass Inklusion oft genannt wird, ohne Menschen mit Behinderung zu erwähnen. In Vielfaltskontexten und Diversity-Veranstaltungen erhält Behinderung die wenigste Beachtung, und wenn doch, repräsentieren oft nichtbehinderte Menschen die Behinderten. Das ist so schräg wie Männer, die über Frauenrechte reden. Das fällt mir zunehmend negativ auf.
Was glauben Sie, steckt dahinter?
Krauthausen: Ich denke, es gibt verschiedene Dynamiken, die hier wirken. Nichtbehinderte Menschen brüsten sich damit, wie sie sich engagieren. Charity ist ja auch etwas Tolles. Es wäre aber sinnvoller, sich in die zweite Reihe zu stellen, wenn man nicht behindert ist, und behinderte Menschen selbst sprechen zu lassen. Bei Veranstaltungen bin ich oft der einzige mit sichtbarer Behinderung. Der gesellschaftliche Schnitt liegt aber bei 10 Prozent aller Bürger:innen, die eine Behinderung haben.
Dieses kaum Sichtbarsein spiegelt allerdings ein gesamtgesellschaftliches Phänomen wider: behinderte Menschen tauchen im Alltag kaum auf, weil sie größtenteils in Sondereinrichtungen, Sonderschulen und Behindertenwerkstätten aussortiert werden. Eine Parallelgesellschaft, in der angeblich für sie alles besser sei. Sie untereinander seien und sich Tipps geben und über Probleme sprechen können. Nicht ausgeschlossen, überfordert und von der nichtbehinderten bösen Welt beschützt werden.
Eine Parallelgesellschaft, die Sie offenbar ablehnen.
Krauthausen: In Wahrheit schützen wir die nichtbehinderte Mehrheitsgesellschaft davor, sich mit dem Thema Vielfalt auseinanderzusetzen. Das merkt man auch im Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund. Auf dem Land wirst du komischer beäugt, wenn du Schwarz bist, als in der Großstadt.
Ähnlich ist es bei Behinderungen – wenn du immer der erste behinderte Mensch bist, den nichtbehinderte Menschen treffen, lastet die gesamte Aufklärungsarbeit auf deinen Schultern. Wachsen wir jedoch gemeinsam im Kindergarten oder in der Schule auf, wäre der Umgang miteinander viel weiter in der Gesellschaft verbreitet.
Also schützt diese Parallelgesellschaft nicht die Menschen mit Behinderungen, sondern die Nichtbehinderten davor, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen?
Krauthausen: Kleines Gedankenspiel: Wie viele Menschen mit Behinderung kennen Sie, mit denen Sie zusammenarbeiten? Wie viele waren an Ihrer Schule, Uni oder Ausbildung? Den meisten fällt auf, dass behinderte Menschen in ihrem Alltag kaum stattfinden. Manchmal sieht man Menschen mit Behinderung auf der Straße oder im Bus, aber nur wenige haben behinderte Menschen im Bekanntenkreis.
Inklusion heißt für Sie also die gleichen Chancen, Rechte und Zugänge zu haben und in der gleichen Gesellschaft zu leben wie nichtbehinderte Personen?
Krauthausen: Genau. Dafür braucht es verpflichtende Anpassungen, wie zum Beispiel behindertengerechte Toiletten. Das darf nicht mehr der Privatwirtschaft überlassen sein, ob sie solche freiwillig installieren oder nicht.
Warum ist die deutsche Gesellschaft beim Thema Inklusion Ihre Meinung nach so rückständig?
Krauthausen: Worüber wir hier reden, sind Menschenrechte – das Recht auf Bildung, die freie Wahl des Wohnortes, Arbeit, Freizeit und Kultur. Es gibt nur wenige Gruppen von Menschen, deren Rechte infrage gestellt werden, sobald Kosten ins Spiel kommen: Menschen mit Migrationshintergrund, Geflüchtete und Menschen mit Behinderung. Ihnen wird oft gesagt, dass Aufzüge oder barrierefreie Toiletten zu teuer seien. Bei Frauen oder rothaarigen Menschen würde man solche Argumente nicht bringen, obwohl auch dort Diskriminierungen existieren.
Die fehlende Inklusion liegt also an den Mehrkosten?
Krauthausen: Dieses Kostenargument ist vorgeschoben. Geld ist vorhanden, es gibt ja diese Sonderschulen, die gut ausgestattet sind. Warum öffnen wir diese Schulen nicht für alle? Warum machen wir nicht alle Schulen barrierefrei? Kinder mit Behinderungen haben oft nicht dieselben Entwicklungsmöglichkeiten. Es gibt viele Sonderschulen, an denen kein Abitur möglich ist. Man stelle sich vor, ein talentiertes Kind in Mathe kann nach der 10. Klasse nicht weitermachen, egal wie begabt es ist. Das ist eine Verletzung des Menschenrechts auf Bildung.
Was müsste sich ändern, damit Inklusion in Deutschland erfolgreicher wird?
Krauthausen: Ein großes Problem ist die fehlende gesetzliche Verpflichtung. Es scheint für niemanden problematisch zu sein, wenn eine McDonald's-Filiale oder Starbucks nicht barrierefrei ist. In anderen Ländern wie Schweden, Kanada, Österreich oder sogar Griechenland, gibt es gesetzliche Regelungen, die sicherstellen, dass neue Gebäude barrierefrei sind. Deutschland spielt oft den Vorreiter, aber bei der Inklusion hinken wir im europäischen Vergleich hinterher. Deutschland muss von seinem hohen Ross runterkommen und anfangen, echte Schritte zu unternehmen.
Stagniert die Inklusion in Deutschland, weil Menschen mit Behinderung oder Beeinträchtigung in entscheidenden politischen Positionen fehlen?
Krauthausen: Ja, das ist wahrscheinlich ein Grund. Aber wir wissen auch, dass viel zu viele Akademiker und Männer in den oberen Positionen sitzen. Es fehlt generell an richtiger Repräsentation. Ein weiterer Grund könnte sein, dass wir einem Glauben aufsitzen, dass die Privatwirtschaft durch Verpflichtungen zur Barrierefreiheit, Reduktion von CO2 oder Erfüllung der Frauenquote überfordert wird.
Sehen Sie darin ein Hauptproblem der letzten Jahre?
Krauthausen: Ja, was die Konservativen und die Liberalen in den letzten 20 Jahren gemacht haben, zeigt das deutlich. Es gab kurz Rot-Grün, das einige Entwicklungen brachte, aber die Große Koalition hat für behinderte Menschen nichts wirklich bewegt. Und jetzt mit der Ampelkoalition und einem Christian Lindner als Finanzminister, der an die schwarze Null wie an eine Religion glaubt, sehe ich auch keine großen Fortschritte.
Angenommen, im letzten Jahr der Ampel raufen sich alle zusammen. Was fordern Sie von der Ampel für mehr Inklusion in Deutschland?
Raul Krauthausen: Ein ganz wichtiger Punkt, hinter dem sich auch alle behinderten Menschen versammeln, ist die Verpflichtung der privaten Unternehmen zur Barrierefreiheit. Das sollte keine freiwillige Option mehr sein, sondern ernsthaft angegangen werden. Ich kann natürlich nicht von heute auf morgen alle McDonald’s-Filialen umbauen lassen. Es muss eine Zeit geben, in der die Anpassungen vorgenommen werden, aber irgendwann sollte es einen Tag X geben, ab dem es ein Klagerecht gibt.
Ganz ehrlich: Es ist oft keine Raketenwissenschaft, sondern es gibt einfache Wege, eine Rampe zu bauen. Auch Untertitel sind dank KI inzwischen relativ gut machbar. Wenn wir diese Verpflichtung einführen, entsteht auch ein Markt für Dienstleistungen wie Barrierefreiheit, Untertitel, Gebärdensprache, Leichte Sprache und weitere notwendige Angebote
Wie oft spüren Sie das in Ihrem Alltag, dieses Ausgeschlossen-Sein?
Krauthausen: Behinderte Menschen sind Weltmeister in der Anpassung. Man arrangiert sich mit den Gegebenheiten, die man vorfindet und kennt seine Wege. Aber persönlich gesprochen, als Teenager oder wenn ich Freunde besuchen möchte, kenne ich kaum Wohnungen meiner Freunde, weil die meisten nicht barrierefrei sind. Meine Freunde müssen dann immer zu mir kommen. Das ist eine Art von Ausschluss.
In Schweden gibt es ein Gesetz, das besagt, dass jeder Neubau in allen Stockwerken barrierefrei sein muss. Die Begründung ist, dass es keinen Sinn macht, wenn sich Behinderte nur untereinander besuchen können. Inklusion bedeutet auch, dass man seine Eltern, Kinder oder Freunde besuchen oder Arztpraxen aufsuchen kann.
Aber ich will nicht nur alles besuchen können und teilhaben. Es braucht auch Teilgabe. Noch ein Beispiel: Inklusion bedeutet nicht nur, dass Rollstuhlplätze im Kino zur Verfügung gestellt werden. Wir brauchen auch Schauspielerinnen mit Behinderung, die auf den Leinwänden und Bühnen präsent sind. Es geht darum, dass behinderte Menschen nicht nur konsumieren, sondern auch gestalten und der Gesellschaft etwas geben können. In ihrer Einzigartigkeit, ihrer Kunst, ihrem Wissen und ihren Erfahrungen sollten sie sichtbar sein. Das wird oft vergessen, wenn wir lediglich von Teilhabe sprechen. Diese Barrieren im Kopf müssen abgebaut werden, aber durch Begegnungen und nicht durch noch mehr Aufklärung.
Die hilft nicht?
Krauthausen : Ich höre oft, dass wir aufklären müssen, um Berührungsängste abzubauen. Aber was genau wollen wir damit aufklären? Dass Kinder mit Behinderung auch ein Recht auf Spielplätze haben? Auf einen Schulabschluss? Das sind doch eigentlich Binsenweisheiten. Wie wird denn aufgeklärt? Mit Plakaten, Werbespots und Broschüren? Zeigen Sie mir einen Menschen, der dagegen ist, dass behinderte Kinder ein Recht auf Spielplätze haben. Diese Person existiert wahrscheinlich selten. Und wenn, wird ein Werbespot da auch nicht helfen.
Was fordern Sie stattdessen?
Krauthausen: Weniger reden, mehr handeln. Wir müssen aufhören, immer nur von Aufklärung zu sprechen, und stattdessen Taten folgen lassen. Die größte Tat ist die Begegnung. Wenn wir uns persönlich treffen würden, wäre das für viele vielleicht neu und einzigartig, aber innerhalb von Sekunden würde man wahrscheinlich erkennen, dass es keinen für Berührungsängste gibt. So eine Begegnung bringt viel mehr, als wenn ich das in einer Broschüre niederschreiben würde. Das Gespräch auf Augenhöhe zeigt, dass unsere Vorurteile wahrscheinlich unbegründet waren, wenn man sich einmal kennengelernt hat. Das ist realistischer und nachhaltiger als jede theoretische Aufklärung. Es ist die praktische Erfahrung, die zählt.