Gefangene helfen Jugendlichen: Einblicke hinter Gittern

Wie ehemalige Straftäter Jugendlichen den Weg in eine bessere Zukunft weisen

Teyfik Sahin in a classroom
Source: Gefangene helfen Jugendlichen

„Herzlich Willkommen. Wir hoffen, euch hier nie wieder zu sehen.“ Mit diesen Worten empfängt Teyfik Sahin eine Gruppe Jugendlicher, die ihn mit betont cooler Fassade, aber auch einer Spur Nervosität mustern. Kein Wunder, denn sie befinden sich nicht irgendwo, sondern in Santa Fu, der Justizvollzugsanstalt (JVA) in Hamburg-Fuhlsbüttel. Teyfik Sahin kennt diesen Ort nur zu gut – 15 Jahre verbrachte er hier wegen gemeinschaftlichen Mordes. Heute kehrt er als Mitarbeiter und seit 2024 auch als Geschäftsführer der gemeinnützigen Organisation „Gefangene helfen Jugendlichen“ (GhJ e.V.) zurück, um Jugendliche, die auf die schiefe Bahn geraten sind, zu unterstützen. Nicht aus Nostalgie – ganz im Gegenteil: Sahin will verhindern, dass andere denselben Weg einschlagen wie er einst.

Um seine Botschaft zu verstärken, hat er Verstärkung: Zehn derzeitige Insassen von Santa Fu, verurteilt wegen verschiedenster Delikte – von Wirtschaftsbetrug über Drogenhandel bis hin zu Gewaltverbrechen –, schildern den Jugendlichen ihre Erfahrungen hinter Gittern. Sie entlarven die gängigen Mythen über ein vermeintlich glamouröses Leben im Gefängnis und berichten eindringlich von den harten Realitäten: der ständigen Gewalt, den fehlenden Freiheiten und den demütigenden Körperkontrollen, die nicht nur die Privatsphäre der Inhaftierten, sondern auch die ihrer Besucher verletzen. Besonders schwer wiegt für sie das Wissen, welchen Schmerz sie ihren Familien und nahestehenden Personen zugefügt haben.

 

Inhaftierte finden besonderen Zugang zu den Jugendlichen

Die Insassen, die an diesem gewalt- und kriminalpräventiven Projekt teilnehmen, wurden sorgfältig ausgewählt. Sie haben sich freiwillig gemeldet, und der GhJ e.V. prüft in intensiven Gesprächen, ob sie geeignet sind – ernsthaftes Schuldbewusstsein, Selbstreflexion und der Wunsch, Jugendlichen zu helfen, sind dabei Grundvoraussetzungen. Innerhalb der JVA genießt das Projekt großes Vertrauen, weshalb die Gespräche ohne Wachpersonal stattfinden. Die Atmosphäre entwickelt sich schnell von anfänglicher Distanz zu einer ehrlichen Auseinandersetzung, bei der die Jugendlichen zunehmend in den Fokus rücken. Nach den Geschichten der Inhaftierten sind die Jugendlichen an der Reihe, über ihre eigenen Konflikte mit dem Gesetz zu sprechen. Das Gespräch findet auf Augenhöhe statt – Ausreden gelten nicht, denn die Inhaftierten wissen genau, was in den Jugendlichen vorgeht. „Erzähl mir nicht, dass es nichts mit dir macht, wenn du eine Waffe trägst!“ oder „Natürlich trittst du aggressiver auf, wenn du ein Totschläger bei dir hast.“ – solche Sätze haben eine andere Wirkung, wenn sie von ehemaligen Straftätern kommen, als wenn Eltern oder Lehrer sie äußern. Sahin ist sich dieser besonderen Dynamik bewusst: „Wir reden Klartext: Die sind abgebrüht. Wir waren es auch.“

 

Teyfik Sahin will mit seiner Geschichte abschrecken

Es ist diese Authentizität, die das Projekt so einzigartig und erfolgreich macht. Das Büro von GhJ ist voll von Auszeichnungen: Der Deutsche Engagementpreis, der Hamburger Integrationspreis und sogar das Bundesverdienstkreuz hängen an den Wänden. Inzwischen zählt der Verein 15 Angestellte, zwei Drittel davon waren selbst im Gefängnis. Gegründet wurde GhJ vor 25 Jahren von Ashoka Fellow Volkert Ruhe, der selbst in Santa Fu inhaftiert war. Seitdem hat sich die Organisation stetig weiterentwickelt. Neben den JVA-Besuchen bietet GhJ heute auch Schulbesuche, pädagogisches Boxen und Anti-Gewalt-Trainings an – alles durchgeführt von ehemaligen Straftätern oder Inhaftierten im offenen Vollzug. Über 5.000 Jugendliche haben bereits an JVA-Besuchen teilgenommen, und 11.500 Schülerinnen und Schüler wurden mit Präventionsangeboten erreicht.

Dass Teyfik Sahin 2024 Geschäftsführer wurde, verdankt er seiner Begegnung mit Volkert Ruhe. 2017, einige Jahre nach seiner Entlassung und während er als Tischler arbeitete, erlitt Sahin persönliche Verluste. Die Mitarbeit im Projekt zeigte ihm jedoch, dass er mit seiner Geschichte etwas Positives bewirken kann: „Die Jugendlichen machten dieselben Fehler wie ich.“ Um zu verhindern, dass ihr Weg ebenfalls in die Katastrophe führt, entschloss sich Sahin, seine Geschichte zu nutzen, um abzuschrecken. Seine Geschichte beginnt Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre im Hamburger Stadtteil Wandsbek: „Ein Wandsbek, in dem bei McDonald’s noch Löcher in den Löffeln und Blaulicht auf den Toiletten waren, um Drogenabhängige fernzuhalten.“ Sahin kiffte, verdiente Geld mit Drogen und geriet immer tiefer in die organisierte Kriminalität. „Ich wurde nie erwischt und dachte, was soll mir schon passieren.“ Mit 21 Jahren, 1998, kam er schließlich ins Gefängnis – die Strafe: lebenslang. 15 Jahre später, 2013, wurde er entlassen.

 

GhJ ermöglicht Inhaftierten echte Teilhabe

„Auch wenn die Arbeit bei GhJ psychisch sehr anstrengend sein kann, bleibe ich dabei. Es macht mich stolz zu sehen, welche Entwicklung einige Jugendliche nehmen, die wir begleiten“, erzählt Sahin. Das Projekt hilft jedoch nicht nur den Jugendlichen, sondern auch den Inhaftierten. Die Rückfallquote in Deutschland liegt laut der Statistik des Bundesjustizministeriums bei 46 bis 66 Prozent – je länger die Haftstrafe, desto höher die Rückfallquote. Grund dafür ist auch die fehlende soziale Teilhabe. GhJ setzt genau hier an und schafft echte Teilhabe: „Die Aufgabe bei GhJ gibt Stabilität. Sie gewinnen wieder Selbstvertrauen, und indem sie ihre Geschichte erzählen, setzen sie sich immer wieder kritisch mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinander.“ Das zeigt Wirkung: „Mit unserem Programm halbieren wir die Rückfallquote. Nur knapp ein Drittel der Inhaftierten, die bei uns mitmachen, wird nach der Entlassung rückfällig“, berichtet Sahin. Ein Ziel, das GhJ von Anfang an verfolgt: Inhaftierten trotz ihrer Vergangenheit Teilhabe zu ermöglichen und ihnen zu zeigen, dass jeder zur Gesellschaft beitragen kann.