„Herzlich Willkommen. Wir hoffen, euch hier nie wieder zu sehen.“ Mit diesen Worten begrüßt Teyfik Sahin eine Gruppe Jugendlicher, die ihn mit betont cooler Fassade, aber auch einer Spur Nervosität mustern. Kein Wunder, denn sie befinden sich nicht irgendwo, sondern in Santa Fu, der Justizvollzugsanstalt (JVA) in Hamburg-Fuhlsbüttel. Teyfik Sahin kennt diesen Ort nur zu gut. 15 Jahre verbrachte er hier wegen gemeinschaftlichen Mordes. Als Mitarbeiter und seit 2024 als Geschäftsführer der gemeinnützigen Organisation „Gefangene helfen Jugendlichen“ (GhJ e.V.) kehrt der 46-Jährige regelmäßig mit straffälligen oder gefährdeten Jugendlichen zurück. Nicht, weil er gute Erinnerungen an diesen Ort hat – ganz im Gegenteil: Er möchte jungen Menschen, die auf die schiefe Bahn geraten, helfen, eine Kehrtwende zu machen. Um seine Botschaft zu verstärken, hat er Unterstützung. Zehn derzeitige Insassen von Santa Fu, verurteilt wegen verschiedenster Delikte – von Wirtschaftsbetrug über Drogenhandel bis hin zu Gewaltverbrechen – konfrontieren die Jugendlichen mit ihrem harten Alltag hinter Gittern. Sie entzaubern Mythen über ein vermeintlich entspanntes oder aufregendes Knastdasein und schildern eindringlich die Realität. Sie erzählen, wie es sich anfühlt, keine Tür mehr selbst öffnen zu können, sprechen über Gewalt unter den Insassen und demütigenden Körperkontrollen - nicht nur für sie selbst, sondern auch für die Menschen, die sie besuchen kommen. Denn besonders schwer wiegt für sie das Wissen, welchen Schmerz sie damit ihren Familien und ihnen nahestehenden Personen zufügen.
Inhaftierte finden besonderen Zugang zu den Jugendlichen
Die Insassen, die bei dem gewalt- und kriminalpräventiven Projekt mitmachen, sind sorgsam ausgewählt. Sie haben sich freiwillig gemeldet, und der GhJ e.V. prüft in intensiven Gesprächen, ob sie geeignet für die Aufgabe sind - ernsthaftes Schuldbewusstsein, Selbstreflexion und die Motivation, Jugendlichen zu helfen, sind dabei Grundvoraussetzungen. Innerhalb der JVA genießt das Projekt großes Vertrauen, weshalb die Gespräche ohne Wachpersonal stattfinden. Die Atmosphäre entwickelt sich schnell von anfänglichen Berührungsängsten zu einer ehrlichen Auseinandersetzung, bei der die Jugendlichen zunehmend in den Fokus rücken. Nach den Berichten der Inhaftierten sind die Jugendlichen an der Reihe, darüber zu sprechen, wie und warum sie schon mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Das Besondere an diesem Gespräch: Es findet auf Augenhöhe statt. Ausreden gibt es nicht, denn die Inhaftierten wissen, was bei den Jugendlichen gerade los ist: „Erzähl mir nicht, dass es nichts mit Dir macht, wenn Du eine Waffe trägst!“ „Natürlich trittst Du aggressiver auf, wenn Du einen Totti [Totschläger] bei Dir hast.“ Oder „Du hast in Deinem Viertel keine andere Wahl? Häng nicht rum und setz dich auf deinen Hosenboden und lern‘ für die Schule!“ – solche Sätze haben eine andere Wirkung, wenn sie von Straftätern kommen, als wenn Eltern oder Lehrkräfte sie äußern. Teyfik Sahin ist sich dieser besonderen Dynamik bewusst: „Wir reden Klartext: Die sind abgebrüht. Wir waren es auch.“
Teyfik Sahin will mit seiner Geschichte sensibilisieren
Es ist diese Authentizität, die das Projekt so einzigartig und erfolgreich macht.
Im Büro von GhJ hängen die Wände voll mit Auszeichnungen, unter ihnen der Deutsche Engagementpreis oder der Hamburger Integrationspreis. Inzwischen zählt der Verein 15 Angestellte, zwei Drittel davon waren schon im Gefängnis. Gegründet wurde GhJ vor 25 Jahren von Ashoka Fellow Volkert Ruhe, als er selbst als verurteilter Straftäter in Santa Fu einsaß. Seitdem hat sich die Organisation stetig weiterentwickelt. Neben den JVA-Besuchen als Kernangebot bietet GhJ heute auch Schulbesuche, pädagogisches Boxen oder Anti-Gewalt-Trainings an – alles durchgeführt von ehemaligen Straftätern oder Inhaftierten im offenen Vollzug. Über 5.000 Jugendliche haben bereits an JVA-Besuchen teilgenommen, 11.500 Schülerinnen und Schüler wurden mit Präventionsangeboten erreicht.
Dass Teyfik Sahin 2024 Geschäftsführer wurde, verdankt er seiner Begegnung mit Volkert Ruhe. 2017, einige Jahre nach seiner Entlassung hatte Sahin wieder Fuß gefasst, arbeitete als selbstständiger Tischler und verdiente gutes Geld. Doch die Mitarbeit im Projekt machte ihm klar, dass er mit seiner Biografie etwas Positives bewirken und der Gesellschaft etwas zurückgeben kann: „Die Jugendlichen erzählten von den gleichen Fehlern, die ich gemacht hatte.“ Um zu verhindern, dass ihr Weg ebenfalls ins Gefängnis führt und „es nicht noch mehr Opfer gibt“ entschloss sich Sahin, seine Geschichte zu nutzen, um sie zu sensibilisieren. Eine Geschichte, die Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre in Hamburger Stadtteil Wandsbek beginnt: Aus Langeweile fängt Sahin als Heranwachsender an zu stehlen, fuhr Auto ohne Führerschein, später kamen Einbrüche hinzu. Immer häufiger organisierte er für kriminelle Cliquen Waffen oder anderes. Damit machte er sich in der Szene einen Namen und gerät so immer tiefer in die organisierte Kriminalität. „Ich wurde nie drangekriegt und dachte, was soll mir schon passieren.“ Mit 21 Jahren, 1998, kam er schließlich ins Gefängnis – die Strafe: lebenslang. 15 Jahre später, als er die Mindeststrafzeit abgesessen hatte, wurde er entlassen und nicht, wie befürchtet, in die Türkei abgeschoben. Sahin sagt: „Ich habe damals mit 36 Jahren für mein Leben eine zweite Chance bekommen – und die will ich nutzen.“
GhJ ermöglicht Inhaftierten echte Teilhabe
„Auch wenn die Arbeit bei GhJ psychisch sehr anstrengend sein kann, bleibe ich dabei. Es macht mich stolz zu sehen, welche Entwicklung einige Jugendliche nehmen, die wir begleiten“, erzählt Sahin. Das Projekt hilft jedoch nicht nur gefährdeten Jugendlichen, sondern auch den Inhaftierten. Die Rückfallquote in Deutschland liegt laut der Statistik des Bundesjustizministeriums bei 46 bis 66 Prozent (je länger die Haftstrafe, desto höher die Rückfallquote). Grund dafür ist auch die fehlende soziale Teilhabe der Inhaftierten. GhJ setzt genau hier an: „Die Aufgabe bei GhJ gibt Stabilität. Die ehemaligen Straftäter gewinnen wieder Selbstvertrauen, und indem sie ihre Geschichte erzählen, setzen sie sich kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinander.“ Das zeigt Wirkung: „Mit unserem Programm halbieren wir die Rückfallquote. Nur knapp ein Drittel der Insassen, die bei uns mitmachen, wird nach der Entlassung rückfällig“, berichtet Sahin. Ein Ziel, das GhJ von Anfang an verfolgt: Inhaftierten trotz ihrer Biografie Teilhabe zu ermöglichen und ihnen zu zeigen, dass jeder aktiv zu einem besseren Miteinander beitragen kann.