Empathisch und Entschlossen

Wie Migration Europa zu einem besseren Ort für alle macht 

two hands of between two garns
Source: Edinah

Deutschland hat eine lange Geschichte der Migration, allerdings scheinen einige Teile der Gesellschaft diese Tatsache immer noch zu leugnen. Ein Paar mit Migrationsgeschichte hat das entscheidende Element des Impfstoffs gegen COVID-19 entwickelt: Uğur Şahin und Özlem Türeci. Uğur Şahin wurde in der Türkei geboren und zog im Alter von vier Jahren zu seinem Vater nach Deutschland, der in einer Kölner Automobilfabrik arbeitete. Özlem wurde in Deutschland geboren und schlug eine medizinische Laufbahn ein, genau wie ihr Vater. Ihre Lebensgeschichten stellen die vorherrschende und entmündigende Darstellung der Migration in Deutschland in Frage, weisen aber dennoch Merkmale auf, die viele andere teilen. Als unternehmerische Akteur:innen mit innovativem Geist setzten sie nicht nur ihre eigenen Fähigkeiten ein, sondern ebneten auch anderen den Weg, einen wertvollen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten.   

Deutschland ist heute die stärkste Wirtschaftsmacht in der Europäischen Union. In der Vergangenheit und Gegenwart ist diese Stärke eng mit der Migration verbunden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schloss Westdeutschland zur Anwerbung von Arbeitskräften für seine Fabriken und Bergwerke verschiedene Abkommen mit Ländern wie Italien, Griechenland, Spanien und der Türkei. Innerhalb von zehn Jahren verzehnfachte sich die Zahl der Arbeitskräfte aus anderen Ländern (von 280.000 im Jahr 1960 auf 2,6 Millionen im Jahr 1973). Nach einiger Zeit holten die Arbeiter:innen ihre Familien nach, die Kinder gingen in Deutschland zur Schule und bekamen schließlich eigene Kinder. Bis 2020 hatten bereits 35 % der in Deutschland lebenden Familien eine solche Migrationsgeschichte. 

Als Ergebnis der Verhandlungen zur Beendigung des Zweiten Weltkriegs teilten die alliierten Streitkräfte Deutschland in Besatzungszonen auf und die Geschichte nahm in Ost und West einen anderen Verlauf. Allerding nicht so sehr in Bezug auf Migration, denn entgegen der heute verbreiteten Meinung gab es diese auch in Ostdeutschland. Etwa 480.000 sowjetische Soldaten waren in Ostdeutschland stationiert und etwa 95.000 Personen aus Ländern wie Vietnam, Mosambik und Angola lebten und arbeiteten 1989 in Ostdeutschland. Die aktuelle Zuwanderung aus kriegsgebeutelten Ländern wie Afghanistan, Syrien oder der Ukraine ist daher für die Menschen in Ostdeutschland keine neue Erfahrung.   

Viele der von Ashoka befragten Organisationen betonten, wie wichtig die Jahre 2015 und 2016 sowohl für ihre eigene Arbeit als auch für die öffentliche Wahrnehmung der Zuwanderung waren. Nach dem Ausbruch des Krieges in Syrien im Jahr 2011 wurden Syrer:innen zur größten Gruppe von Geflüchteten in Deutschland. Im Jahr 2022, nach mehreren Kriegsjahren, befanden sich etwa 900.000 Syrer:innen in Deutschland (bei einer Gesamtbevölkerung von 84 Millionen Menschen). Die meisten kamen in den Jahren 2015 und 2016, darunter mehr als 60.000 unbegleitete Minderjährige. Sie wurden zunächst mit einer beispiellosen öffentlichen Unterstützung und dem Aufbau von Förderstrukturen empfangen. In den folgenden Jahren gewann der Rechtspopulismus an Unterstützung, der öffentliche Diskurs drehte sich und führte zu einer Verschärfung der Asylgesetze sowie zu einem Anstieg rassistisch motivierter Straftaten. 

Seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine haben 1.074.864 Ukrainer:innen Schutz in Deutschland gesucht, darunter 346.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren (Stand: Juli 2023).  Während in der deutschen Bevölkerung nur etwa 15 % unter 18 Jahren sind, ist der Anteil junger Menschen unter Migrant:innen doppelt so hoch. Sowohl die Relevanz junger Menschen innerhalb der Migrationsbewegungen als auch ihre Bedeutung für die Veränderung einer Gesellschaft haben Ashoka Deutschland veranlasst, sich in dem Bericht "Empathisch und Entschlossen: Wie Migration Europa zu einem besseren Ort für alle macht" auf die Jugend zu konzentrieren (71 Organisationen wurden befragt, zu 60 % geleitet von Personen unter 25 Jahren). 

Junge Menschen mit Migrationsgeschichte leisten einen wichtigen Beitrag zum Wohl der Allgemeinheit 

Eine Denkweise umfasst eine Reihe von Überzeugungen, die von Einzelpersonen oder Gruppen vertreten werden. Sie kann sich bei Einzelpersonen, in Gruppen und schließlich in ganzen Gesellschaften verändern. Wenn man auf der individuellen Ebene beginnt und sich selbst als „Changemaker“ begreift, verändert sich die eigene Einstellung nachhaltig, mit potenziellem Einfluss auf größere Gruppen. Aber wie genau geschieht das? 

Kinder und Jugendliche, die mit ihren Eltern oder allein unterwegs waren, haben oft intensive Gefühle wie Angst und Hoffnung durchlebt. Für einige beginnt die Entfaltung ihres Potenzials erst, wenn sie sich in einer sicheren Umgebung wiederfinden und ihre Tage mit Schule, Freund:innen und allem anderen, was zum Erwachsenwerden gehört, ausgefüllt sind. Andere haben außergewöhnliche Erfahrungen gemacht, während sie ihre Ausreise planten, unterwegs waren oder ankamen. Manchmal sind diese Erfahrungen traumatisierend, können aber auch dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche auf der Flucht Resilienz, Bewältigungsstrategien oder kreative Lösungen entwickeln. Diese individuellen Erfahrungen sind mit der Selbstwahrnehmung von Menschen auf der Flucht verknüpft und der Art und Weise, wie sie von anderen gesehen werden.13 

 

Perspektivenwechsel von dem, was fehlt, zu dem, was bereits da ist 

Während die Notwendigkeit von mehr Offenheit, Akzeptanz und Empathie in den Interviews am häufigsten genannt wurde (von 51 Befragten), stand die Notwendigkeit des Wechsels von einer defizitorientierten zu einer ressourcenorientierten Sichtweise an zweiter Stelle (genannt in 38 Interviews). Wie ein Befragter sagte:

Die Gesellschaft muss aufhören, sich auf Schwächen wie sie sprechen kein Deutsch‘ zu konzentrieren und stattdessen auf die Stärken der Menschen.

Die entscheidende Frage lautet: Wie können wir Stärken entdecken und entwickeln, vor allem in jungen Jahren?  

 

Was Kinder von Migrant:innen am meisten brauchen 

Nicht alle Kinder mit Migrationsgeschichte wachsen in Armut auf, aber das Armutsrisiko ist in dieser Bevölkerungsgruppe doppelt so hoch. Kinder von Migrant:innen, die in Armut aufwachsen, haben einen erheblichen Nachteil bei der Entfaltung ihres Potenzials, da ihr Zugang zu Bildung und Chancen begrenzt ist. Aus diesem Grund haben sich viele Organisationen in Deutschland auf Dienstleistungen im Bereich der Bildung konzentriert. So machte beispielsweise die Weiterführung der schulischen Bildung in der ukrainischen Sprache 43 % der in den Interviews genannten Aktivitäten der befragten Organisationen aus. Bildung ist allerdings viel mehr als nur die Vermittlung von Wissen. Neben anderen Vorteilen bietet der Schulbesuch eine verlässliche Tagesstruktur, die Möglichkeit, Freundschaften zu schließen und im Idealfall eine Vielzahl von Fähigkeiten zu entwickeln, einschließlich Neugier, Kreativität und Kommunikation. 

„Sobald ich arbeiten darf, ohne auf Sozialleistungen angewiesen zu sein, kann ich meinen Wert, meine Intelligenz und meine Fähigkeiten unter Beweis stellen.“ 

 Kateryna Milianovska, SchlaU-Schule 

Migration ist eine gemeinsame Erfahrung 

Jugendliche mit Migrationsgeschichte sind mit mindestens zwei Denkweisen konfrontiert: Weil sie jung sind, werden sie oft als „noch nicht bereit“, „unreif“ oder „nicht gut genug“ angesehen. Hinzu kommen weitere Stereotypen, die mit ihrer familiären Migrationsgeschichte zusammenhängen.  

Wenn wir Migration als eine gemeinsame Erfahrung betrachten, können wir uns auch über diese gemeinsame Erfahrung verbinden. Die Migration wird von Ukrainer:innen und Syrer:innen geteilt, aber auch von Menschen, die vor Jahrzehnten nach Deutschland gekommen sind oder auch nur in eine andere Stadt oder für kurze Zeit umgezogen sind. Bewegung gibt es auch im Laufe eines Lebens und sogar zwischen den Generationen. In Deutschland ist die sogenannte Migrationsgeschichte nach wie vor ein statistisches Instrument, auch für Menschen, die selbst nicht zugewandert sind, aber mindestens einen Elternteil haben, der außerhalb Deutschlands geboren wurde. So werden Menschen mit deutschem Pass, die in Deutschland geboren sind und ihr ganzes Leben in Deutschland verbracht haben, deren Vater oder Mutter aber im Alter von 4 Jahren nach Deutschland zugewandert ist, auch heute noch als „mit Migrationsgeschichte“ eingestuft.15 Das Etikett des Migrationsgeschichtes dient dazu, zu definieren, was ein „echter Deutscher“ bzw. eine „echte Deutsche“ ist und was nicht, was viele populistischen Bewegungen der letzten Zeit genutzt haben, insbesondere im Zusammenhang mit Kriminalität.

Angesichts dieses Labels mit eindeutig negativem Unterton hielten die Organisationen der Zivilgesellschaft die Normalisierung der Migration für unerlässlich. Zum Ausdruck gebracht wurde die Notwendigkeit, Einstellungen zu ändern (51 Nennungen), Vielfalt zu fördern (15 Nennungen) und Vorurteile zu bekämpfen (12 Nennungen). Die treibende Kraft dafür ist Empathie, wie Mariia Borysenko von Vitsche betont:

Empathie führt dazu, eine nicht-deutsche Person als Mensch zu sehen.“ 

Herausfinden, was sich verbessern könnte und den ersten Schritt machen 

Wenn Familien zuwandern, sind die Kinder oft die ersten in der Familie, die eine deutsche Schule besuchen, sich mit ausreichenden Sprachkenntnissen in der deutschen Bürokratie zurechtfinden oder andere Familienmitglieder bei ärztlichen Terminen unterstützen müssen. Ob Bildung, öffentliche Dienstleistungen oder das Gesundheitssystem, in allen Bereichen sind soziale Innovationen gefragt. Junge Migrant:innen überwinden diese Hürden und finden dabei heraus, was verändert werden muss, damit sich das gesamte System weiterentwickelt.  

Dies ist ein Auszug aus dem Bericht "Empathisch und Entschlossen: Wie Migration Europa zu einem besseren Ort macht" von Ashoka. Der gesamte Bericht wird ab dem 22.09.2023 online zugänglich sein, die Quellenangaben befinden sich in dem Original online. Der englische Titel des Berichts lautet "Stepping Up: Ukrainian Refugees, Changemaking and how to make Europe a better place for all."