Christiana Bukalo ist staatenlos – obwohl sie in Deutschland geboren wurde und ihr ganzes Leben hier verbracht hat. Bei Staatenlosen geht es jedoch um viel mehr als einen Personalausweis im Portemonnaie. Es geht um fehlende Menschenrechte, das Gefühl ständiger Ablehnung und Hilflosigkeit.
Christiana Bukalo kommt 1994 in Deutschland zur Welt. Sie wächst in Puchheim bei München in Bayern auf, geht dort zur Schule, engagiert sich nebenbei ehrenamtlich in der Evangelischen Kirche. Später studiert sie Kommunikationsmanagement und BWL und steigt ins Berufsleben ein.
Es ist ein Lebenslauf, der wie eine Schablone auch auf Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen andere Werdegänge passt. Und trotzdem ist Christiana Bukalo anders – sagt zumindest der Staat. Aber welcher überhaupt? Nur eines ist klar: Christiana Bukalo gehört offenbar nirgendwo so richtig hin. Sie ist staatenlos.
In Deutschland leben rund 126.000 Staatenlose
Weltweit gibt es schätzungsweise 15 Millionen Menschen ohne Staatsangehörigkeit. Rund 126.000 Staatenlose leben in Deutschland; jeder dritte von ihnen wurde auch hierzulande geboren. Eine Person ist staatenlos, wenn kein Staat sie als seinen Staatsangehörigen anerkennt. Die Gründe für Staatenlosigkeit sind unterschiedlich. Fehlende Geburteneinträge oder Geburtsurkunden, Kriege und die Auflösung von Staaten, Aberkennung von Nationalitäten und die Diskriminierung von Minderheiten sind einige davon. Auch wenn die eigenen Eltern keine oder eine ungeklärte Staatsangehörigkeit haben, kann auch das Kind staatenlos werden.
Das war auch bei der Familie von Christiana Bukalo der Fall. Als ihre Eltern in den 1990ern aus Westafrika nach Deutschland kamen, hatten sie „unzureichende Nachweise über die Staatsangehörigkeit“ vorgelegt, die deswegen den Stempel „ungeklärt“ bekam. Somit konnte Christiana Bukalo die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern nicht erben und auch die deutsche nicht erwerben, da diese nicht per Geburt erlangt werden kann. „Es passiert dann leider relativ schnell: Ab dem Moment, in dem ich keine andere Staatsangehörigkeit erben kann, aber auch das Land, in dem ich geboren werde, mir die Staatsangehörigkeit verweigert, werde ich staatenlos“, sagt sie im Gespräch mit FOCUS online im Zuge des Ashoka Summits in Hamburg, bei dem FOCUS Online Medienpartner ist.
Für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit reicht es nicht aus, in Deutschland geboren zu sein, die Sprache zu sprechen, mindestens acht Jahre hier gelebt und ausreichende finanzielle Mittel zu haben. Die höchste Prämisse ist eine geklärte Identität und Staatsangehörigkeit. „Das Problem bei staatenlosen Personen ist, dass die Identität erst dann als geklärt gilt, wenn die Staatenlosigkeit anerkannt wurde. Wir in Deutschland haben aber gerade kein klares Verfahren dafür“, sagt Christiana Bukalo. Deswegen hätten viele Staatenlose Probleme bei der Einbürgerung und im Unterschied zu Drittstaatangehörigen „extreme Nachteile“.
Staatenlose Menschen dürfen nicht wählen, können nicht reisen oder im Hotel einchecken
Bei Staatenlosigkeit geht es dabei viel mehr als nur die Zugehörigkeit zu einer Nation und ein bisschen Bürokratie. Es geht um grundlegende Menschenrechte. So dürfen Staatenlose nicht wählen. „Obwohl wir 100 Prozent von den Entscheidungen der Politik beeinflusst sind, haben wir null Prozent Mitspracherecht“, sagt Christiana Bukalo. Auch Heiraten ist schwierig.
Daneben sind alltägliche Dinge für Betroffene teilweise nicht möglich. „Ich konnte mich damals nicht an einer öffentlichen Uni einschreiben, weil das ohne Staatsangehörigkeit nicht ging“, berichtet Christiana Bukalo, die statt einem Personalausweis eine Aufenthaltskarte besitzt – eine Art Aufenthaltsnachweis, die jedoch kein Identitätsnachweis ist. Auch das Eröffnen eines Geschäftskontos sei mit Hürden verbunden, ebenso die Registrierung von SIM-Karten, der Online-Check-In in Hotels – im Grunde alles, was einen Personalausweis oder Reisepass erfordert.
Das Reisen ist ebenfalls erschwert. „Ich konnte ganz lange nicht verreisen. Als Kind konnte ich zum Beispiel nicht einfach mit ins Schullandheim“, berichtet sie. Bei ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit für die Kirche habe sie dadurch nie Freizeiten im Ausland betreuen können. Erst mit 18 Jahren habe sie einen Reiseausweis für Ausländer bekommen.
„Es bleibt das langanhaltende Gefühl, dass man hier keinen Rückhalt hat“
Neben den administrativen Querelen ist Staatenlosigkeit auch eine psychische Belastung. “Darüber hinaus gibt es auch dieses langanhaltende Gefühl, dass man hier keinen Rückhalt hat und nicht vom System geschützt wird", sagt Christiana Bukalo. Für Herausforderungen gebe es keine Anlaufstelle, die Ablehnung „von dem Land, das auch das einzige ist, das man kennt“ sei omnipräsent. „Ich soll zwar nicht hier sein, aber ich kann auch nicht gehen und das ist ein ganz komisches Gefühl“, sagt sie.
Da 70 Prozent aller Staatenlosen einer Minderheit angehören, sei häufig „doppelte Diskriminierung“ vorprogrammiert. Auch auf Grund ihrer Hautfarbe habe Christiana Bukalo schon rassistisch motivierte Benachteiligung erfahren. „Es ist schwer, die unterschiedlichen Diskriminierungserfahrungen, denen man ausgesetzt ist, voneinander zu trennen“, sagt sie. Das Leid der Betroffenen sei fast unsichtbar – schließlich nehme die Öffentlichkeit staatenlose Menschen nicht wahr.
Eine desaströser Reiseversuch ändert für Christiana Bukalo alles
Ihre Staatenlosigkeit sei für sie früher „sehr schambehaftet“ und ein Tabu-Thema gewesen. Sie habe es so gut wie möglich zu ignorieren versucht und auf Hürden mit Umwegen reagiert. Ein gescheiterter Reiseversuch nach Marokko – ihre erste Reise ins Ausland überhaupt – vor einigen Jahren markierte dann jedoch einen Wendepunkt in ihrem Leben.
Was war passiert? Nach intensiver Recherche zu den Reisebedingungen und Kontaktierung der deutschen Ausländerbehörde sowie der marokkanischen Botschaft war sie mit ihrem Reiseausweis für Ausländer, ein deutsches Passersatzpapier, nach Marokko geflogen. „Am Flughafen wurde ich dann damit konfrontiert, dass ich nicht einreisen darf“, berichtet sie. 20 Stunden habe sie dort ausharren müssen, ehe der nächste Flieger zurück nach Deutschland ging. Dieser brachte sie allerdings nicht nach München, sondern nach Düsseldorf.
Nach neun Stunden Busfahrt und mehr als einem Tag Reise-Odyssee war Christiana Bukalo wieder zu Hause. Marokko – nach wie vor ein ihr unbekanntes Land. „Das war so eine traumatisierende Erfahrung für mich, dass ich mir gewünscht habe, dass sowas niemals wieder jemand anderem passiert“, sagt sie.
Jemand anders, das realisierte Christiana Bukalo erst auf ihrer Rückreise, mitten in der Nacht im Bus bei einer Handy-Recherche, waren laut einer Tabelle des Statistischen Bundesamtes mehr als 100.000 weitere Menschen in Deutschland. „Da war ich einfach schockiert über die Anzahl an Personen. Ich dachte immer, es sind nur ich und meine Schwestern“, sagt sie. „Aber bei so vielen Betroffenen – wie kann es sein, dass es keine Lösungen gibt?“
Statefree will mit Projekten Gleichberechtigung für staatenlose Menschen erreichen
Um daran etwas zu ändern und staatenlose Menschen in der Gesellschaft überhaupt sichtbar zu machen, gründete Christiana Bukalo vor rund vier Jahren „ Statefree “ mit. Die Mission der Organisation: Gleichberechtigung, Zugehörigkeit und Teilhabe für staatenlose Personen zu schaffen. „Alles, was ein Mensch braucht, um sich in der Gesellschaft entfalten und etwas beitragen zu können, ist für Staatenlose immer limitiert oder beschränkt“, sagt sie. „Unser Ziel ist im Endeffekt, dass staatenlose Personen das Recht haben, ein ganz normales Leben zu leben wie alle anderen auch"“, sagt sie.
Das will Statefree mit drei Säulen erreichen: Community, Sichtbarkeit und Equal Rights.
- Community zielt darauf ab, Staatenlose vor Ort oder virtuell zusammenzubringen, um ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind.
- Sichtbarkeit versucht das Statefree-Team durch Aufklärung zu schaffen, schließlich können nur sichtbare Probleme gelöst werden.
- Equal Rights steht indes für politische Arbeit und Austausch mit Abgeordneten auf Bundes- und Landesebene.
„Staatenlosigkeit ist ja nicht nur für Betroffene eine Hürde, sondern auch für die Behörden, die nicht genug Handreichung dazu erhalten, wie man damit umgeht. Das führt dazu, dass Fälle sich stauen oder immer wieder neu geprüft werden müssen“, sagt Christiana Bukalo. Allein die in Deutschland geborenen 36.000 Staatenlose müssten wegen Unklarheiten immer wieder Behörden aufsuchen – „obwohl es kein Land auf dieser Welt gibt, was mehr über diese Leute weiß als Deutschland selbst“.
Statefree Case Assistant soll bei der Antragstellung zur Einbürgerung helfen
Derzeit arbeitet Statefree im Zuge eines Projekts daran, eine der vielen bürokratischen Hürden zu überwinden – mit Hilfe des Statefree Case Assistant. Dieses digitale Tool soll eine Lösung für das in Deutschland fehlende Feststellungsverfahren der Staatenlosigkeit sein. „Der Case Assistant soll Staatenlosen helfen, die Beweismaterialien und auch alternativen Beweismöglichkeiten, die sie zum Nachweis ihrer Staatenlosigkeit und Identität haben, zu sammeln und daraus einen Antrag zu generieren, den sie letztendlich bei der Behörde einreichen können“, erklärt die Mitgründerin von Statefree. Das Tool befinde sich gerade in der Entwicklungsphase und soll zukünftig als Blaupause auch für andere europäische Länder gelten.
Außerdem startet im Herbst zum 70. Jubiläum des Übereinkommens über die Rechtsstellung von Staatenlosen eine Kampagne.
Abgeordnete tauschen sich mit Organisation aus
Auf zwei Errungenschaften ist Christiana Bukalo besonders stolz. Zum einen das Statefree Dinner, bei dem Abgeordnete, die am Staatsangehörigkeitsgesetz gearbeitet haben, und Community-Mitglieder bei einem Abendessen auf Augenhöhe über das Thema Staatenlosigkeit diskutierten.
Zum anderen ein rechtliches Novum. „Das war zwar nicht die Lösung, die wir uns gewünscht haben“, sagt sie. Ursprünglich hatte Statefree vier Forderungen an die Bundesregierung entworfen, wie Staatenlosigkeit in das neue Staatsangehörigkeitsgesetz eingebettet werden kann. Die Forderungen kamen nicht in das Gesetz, jedoch gab es eine untergesetzliche Regelung und Beschlussempfehlung vom Innenausschuss. Diese erkennt den Handlungsbedarf in puncto Staatenlosigkeit an und legt fest, dass das Innenministerium fortan als Ansprechpartner für Staatenlose fungiert. „Und das gab es vorher noch nie“, sagt Christiana Bukalo.
„Nur das Finanzamt hatte noch nie einen Zweifel an meiner Identität“
Das Konzept der Staatsbürgerschaft begrüßt sie grundlegend, solange es Menschen schützt und niemanden ausschließt. Oft werde die Zugehörigkeit zu einem Land jedoch als politisches Instrument genutzt, um Leute zu diskriminieren und verfehle damit seinen Zweck.
"Bei staatenlosen Menschen steht oft der Vorwurf im Raum, dass sie keine Identität hätten oder diese nicht geklärt sei“, sagt Christiana Bukalo. „Aber das ist ja absurd, jeder Mensch hat eine Identität – auch ohne Staatsangehörigkeit. Es geht also vielmehr darum, eine Struktur zu schaffen, in der wir Identität auch ohne Staatsangehörigkeit prüfen und rechtlich anerkennen können. “
Eine Behörde habe ihr diesbezüglich nie Probleme bereitet. „Das Finanzamt hatte noch nie einen Zweifel an meiner Identität“, sagt sie. Seit ihrem ersten Job vor rund 14 Jahren habe sie eine Identifikationsnummer. Beim Zahlen von Steuern habe sie noch nie Schwierigkeiten gehabt. „Da merkt man, an welchen Ecken und Enden der Staat gewisse Dinge anerkennen kann, wenn sie zum Vorteil des Staates sind.“ Immer sei von Rechten und Pflichten die Rede. „Aber ich habe gerade alle Pflichten – und nicht alle Rechte.“