Teilhabe ist eine Haltung

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Wer sich mit dem Thema Teilhabe beschäftigt, kommt in Hamburg am Dialoghaus nicht vorbei. Gut so. Das von Ashoka Fellow Andreas Heinecke gegründete interaktive Erlebniszentrum stellt mit Ausstellungen wie „Dialog im Dunkeln“ oder „Dialog im Stillen“ seit fast 25 Jahren Vorstellungen von Normalität in Frage. Unterschiedliche Begegnungsformate wie ein Stadtspaziergang in völliger Dunkelheit oder ein Gespräch in absoluter Stille begleitet von sehbehinderten oder gehörlosen Guides ermöglichen den Gästen einen echten Perspektivwechsel und geben eine Vorstellung davon, welchen Herausforderungen Menschen mit Behinderungen täglich gegenüberstehen – aber auch welche Möglichkeiten sich durch die Konzentration auf bestimmte Sinne eröffnen.

Teilhabe, Barrierenabbau und Achtsamkeit miteinander sind in diesem Haus nicht nur Inhalt der Ausstellungen, sondern werden zwischen den Mitarbeitenden auch gelebt. Die Mehrheit stellen dabei mit mehr als sechzig Prozent die gehörlosen oder sehbehinderten Mitarbeitenden im Dialoghaus. Grund genug sich mit zwei starken Frauen zu unterhalten, die tagtäglich dafür sorgen, dass Teilhabe im Dialoghaus gelebt wird.

Johanna Claussen ist sowas wie das Herz des Dialoghaus. Seit 13 Jahren sorgt sie für das Gebäudemanagement und die Infrastruktur. Aus einer freien Fläche ohne Strom und Heizung eine komplett neue Ausstellungswelt zu erschaffen und ein Team von sieben Mitarbeitenden zu leiten gehört genauso zu ihren Aufgabengebieten, wie durch geeignete Leitsysteme für möglichst große Barrierefreiheit zu sorgen. Ihre Kollegin Anna Tritschoks ist erst seit August 2023 dabei – aber nicht mit weniger Leidenschaft. Nach verschiedenen beruflichen Stationen als Altenpflegerin, zahnmedizinische Fachkraft und Bestatterin hat sie im Dialoghaus ihre neue Heimat gefunden und macht hier eine Ausbildung zur Bürokauffrau. Im Gespräch erzählen die beiden Frauen, was es ihrer Meinung nach braucht, um Brücken für ein besseres Miteinander zu bauen, welche kleinen Schritte bereits große Veränderung bringen und wie die Arbeit im Dialoghaus ihr Leben beeinflusst.

Ashoka: Anna, Du arbeitest im Rahmen Deiner Ausbildung zurzeit im Besucherservice. Das heißt, Du bist der erste Kontakt für Besuchende und bereitest sie auf die Ausstellung vor. Was gibst Du den Menschen mit, die in der Ausstellung Alltägliches aus einer für sie oft ganz neuen Perspektive kennenlernen?

Anna: Ich begleite sie auf dem Weg in die Dunkelheit und versuche ihnen ihre Angst zu nehmen. Der Perspektivwechsel fängt mit der Einweisung schon an. Ich versuche ihnen zu vermitteln, dass das Dunkle, was sie vielleicht als etwas Beängstigendes oder sogar Böses wahrnehmen, nur ein Augenöffner auf anderen Ebenen ist. Dass der Blindenstock nichts Abschreckendes ist, sondern auf dem Weg durch die Ausstellung im Dunkeln ihr neues Auge ist, mit dem sie spüren, fühlen und eben auch sehen können – nur anders als sie es gelernt haben.

Ashoka: Du lässt sie damit an einer Welt teilhaben, die auch zu Deinem Leben gehört. Fällt Dir das leicht?

Anna: Es ist oft überraschend für Besuchende, dass ich nur noch zwanzig Prozent Sehkraft habe. Klar, ich sehe noch was, aber durch meinen starken Tunnelblick sehe ich wenig genug, um die Welt der Dunkelheit erklären zu können. Inzwischen fällt mir das leicht. Vor allem Kinder fragen sehr direkt nach. Anfangs musste ich manchmal noch schlucken. Aber ich weiß, dass sie einfach aus kindlicher Neugier fragen– damit kann ich gut umgehen. Bei Erwachsenen muss ich mehr erklären. Erst letztens wollte mir eine Männergruppe gar nicht glauben, dass ich seheingeschränkt bin, weil man es mir nicht ansieht und ich vorher noch das Ticketing am PC gemacht habe. Das sind dann schon Situationen zum Schmunzeln und für die Besuchenden ein Mini-Augenöffner, dass man nicht jedem ansieht, ob es ein Handicap gibt oder nicht.

Johanna: Ich möchte noch ergänzen, dass es nicht unser Ziel ist, den Fokus auf die Behinderung zu legen. Uns geht es ums Miteinander, und zwar um ein gleichberechtigtes. Dafür schaffen wir Begegnungsflächen und Möglichkeiten für den Perspektivwechsel: um in den Dialog zu kommen, für mehr gegenseitiges Verständnis, für Neugier aufeinander und um Barrieren für Teilhabe abzubauen. Und das übrigens mit einem immer breiteren Ansatz: Es gibt so viele Einschränkungen, die Teilhabe erschweren können. Für mich fängt das beispielsweise schon bei Schüchternheit an. Und egal weshalb sich jemand ausgeschlossen fühlen könnte – unser Ziel ist es, Brücken zueinander zu bauen.

Ashoka: Das ist ein gutes Stichwort. Johanna, Du bist für die Infrastruktur zuständig. Ein wichtiger Aspekt, wenn es um Teilhabe geht. Hier im Dialoghaus kommen unterschiedlichste Bedürfnisse zusammen. Wie lassen sich die alle miteinander vereinen?

Johanna: Das ist eine besondere Herausforderung und wir müssen alle täglich dazu lernen. Das fängt schon damit an, dass unser Gebäude nicht barrierefrei ist. Obwohl wir mehrere Etagen haben, haben wir keinen Innenaufzug. Da das Gebäude zum Weltkulturerbe gehört, werden wir für mehr Barrierefreiheit irgendwann das Gebäude wechseln müssen. Ich sage deshalb immer: Das Gebäude ist eins mit Behinderung. Aber es gibt natürlich noch viel mehr Aspekte, die im täglichen Miteinander zu Barrieren werden können. Da wir mit der Ausstellung “Dialog im Dunkeln” begonnen haben, haben wir vieles im Gebäude so geplant, dass es möglichst barrierearm für unsere seheingeschränkten und blinden Kolleg:innen ist. Das fängt bei der Wahl von Glühbirnen an, über unterschiedliche Arten von Leitstreifen bis hin zu Bildschirmen und Formatierungen von Word-Dokumenten. Mit Ausstellungen wie “Dialog im Stillen” ist unser Mitarbeitenden-Team immer diverser bunter geworden, was aber auch heißt andere Bedarfe mitzudenken. Das ist herausfordernd, aber es ist auch unglaublich schön zu sehen, wie viel mehr Teilhabe wir schon mit kleinen Stellschrauben ermöglichen können.

Ashoka: Hast Du dafür ein Beispiel?

Johanna: Ja, sogar ein ganz aktuelles: In meinem Team sind zwei gehörlose Mitarbeiter, die für die Gebäudereinigung zuständig sind. Seit einiger Zeit nutzen wir eine Software, über die wir Aufgaben digital planen und über Mitarbeiterhandys miteinander kommunizieren können. Seitdem können die beiden Kollegen viel besser verfolgen, was erledigt werden muss und mit allen anderen gleichberechtigt in den Austausch treten – auch ohne Gebärdensprachdolmetscher. Ein großes Stück ihrer Isolation ist aufgehoben! Jetzt sind sie mittendrin, können sich einbringen und zeigen, was sie leisten. Fast das Schönste daran: dadurch sind sie viel selbstbewusster und zufriedener geworden. Es ist so eine einfache Sache, die so viel Wirkung erzeugt.

Anna: Auch ich hatte vor meiner Arbeit im Dialoghaus keine Berührungspunkte mit gehörlosen Menschen. Für mich war aber sofort klar, dass ich Gebärdensprache lernen will – zumindest die Basics. Das ist für mich eine Sache der Höflichkeit. Außerdem entspannt es mich, komplett in die Stille zu gehen, nur Gestik und Mimik zu nutzen. Das macht die Kommunikation viel intensiver.

Johanna: Das kann ich nur bestätigen. Gebärdensprache ist eine sehr zugewandte, präsente Sprache. Man fällt sich auch nicht so schnell ins Wort, man muss sich auf sein Gegenüber konzentrieren und aufeinander achten. Ich habe in dieser Hinsicht extrem viel von unseren gehörlosen Kollegen gelernt.

Ashoka: Wie prägen solche Erfahrungen und diese Arbeitsatmosphäre euch persönlich?

Johanna: Die Arbeit mit diesem diversen Team im Dialoghaus macht mich reich. Wir haben auch Konflikte oder Herausforderungen zu bewältigen, aber dranzubleiben und Lösungen zu finden, das ist etwas, was mich wirklich glücklich macht. Wenn ich etwas Neues lerne oder auch erfahre, was ich besser nicht mehr machen sollte, finde ich das einfach unheimlich toll.

Anna: Ich war von Tag eins schockverliebt. Solch ein Miteinander kannte ich bis dahin nicht. Hier darf ich Mensch sein. Ich bin viel selbstsicherer geworden – und auch gesünder, weil wir hier aufeinander achten. Ich habe zum Beispiel erst durch die „Dialog im Dunkeln“-Guides gelernt, mich auf die Dunkelheit einzulassen. Vorher habe ich mich nur mit Sehenden und ihrer Welt verglichen. Habe versucht, genauso gut, genauso stark zu sein, genau das gleiche Reaktionsvermögen zu haben – das ist anstrengend, aber ich hatte es nie anders gelernt. Und jetzt weiß ich, dass die Dunkelheit für mich sogar ein Wellnessbereich sein kann. Ich darf meine Augen ausruhen und mich auf meine anderen Sinne konzentrieren.

Ashoka: Schafft ihr es diese Brücken für mehr Teilhabe auch außerhalb des Dialoghauses zu bauen?

Anna: Ich versuche nicht bewusst, Leuten etwas beizubringen. Aber in der Berufsschule zum Beispiel kann ich schon Brücken bauen und berichten, wie wir mit bestimmten Themen im Dialoghaus umgehen. Aber grundsätzlich denke ich, trage ich die Erfahrungen, die ich im Dialoghaus mache, ganz automatisch nach außen, weil ich es spüre und fühle. Das kommt aus dem Herzen heraus!

Johanna: Für mich sind Dialog und der Perspektivwechsel der Schlüssel für mehr Wertschätzung untereinander. Sich in die Schuhe des anderen stellen – oder in den Rollstuhl setzen – ist der erste Schritt für ein Miteinander auf Augenhöhe. Man muss dafür aber offen sein, sonst klappt es nicht. Teilhabe ist eine Haltung.