22 Prozent. Dies war die alarmierende Zahl, die von den meisten Medien zitiert wurde, als die Shell-Jugendstudie im April veröffentlicht wurde. Fast jeder vierte Mensch in Deutschland im Alter zwischen 12 und 25 Jahren würde in Wahlen die extreme Rechte wählen. Jede demokratische Partei in Deutschland - die Konservativen, Sozialisten, Grünen und Liberalen - würde weniger erhalten.
"Jugend: Pessimistischer und weiter nach rechts gerückt" war noch eine der sachlichen Schlagzeilen. Andere Artikel trugen Titel wie "Jugend im Krisenmodus" oder "Jugend schwenkt zur AfD: Spaltend ist nicht nur das Thema Flüchtlinge", und zeichneten ein Bild von jungen Menschen, die demoralisiert, gespalten und Opfer ihrer Umstände sind. Die Annahme, junge Menschen seien voller Hoffnung und politisch progressiv, wird ernsthaft in Frage gestellt – ohne den Zusammenhang herzustellen, dass die gesamte europäische politischen Landschaft nach rechts driftet, in allen Altersgruppen.
Während der Anstieg der Unterstützung für die extreme Rechte unter den Jugendlichen alarmierend ist, müssen wir den Fokus auf die Mehrheit der 78 Prozent verlagern: Wir müssen junge Menschen unterstützen, die soziale und ökologische Probleme lösen. Ähnlich wie Schaulustige bei einem Autounfall sich schließlich wieder auf die Straße vor ihnen konzentrieren müssen, müssen auch wir weitergehen. Wir sind uns dieses alarmierenden Trends zu extrem rechten und rechtsextremen Werten bewusst, aber wir lenken unsere Aufmerksamkeit jetzt bewusst darauf, die Mehrheit zu stärken. Das bedeutet, jetzt die Trümmer extremistischer Ideologien beiseitelegen und den Weg für eine inklusivere und demokratischere Zukunft ebnen - mit Hoffnung, Empathie und echter Teilhabe.
Es wurde viel über den Aufstieg der deutschen rechtsextremen Partei AfD und ihrer spaltenden Narrative geschrieben. Doch viel weniger wissen wir, wie eine positive Zukunft aussehen könnte, wenn wir diesen Narrativen etwas gegenüber stellen. Während das Demonstrieren auf den Straßen gegen rassistische Ideen Millionen von Menschen vereint - wie es im letzten Januar in vielen Städten geschah – brauchte es einen gemeinsamen Feind. Zu Demos gehen und rufen "Ganz Berlin hasst die AfD" oder #noAfD-Kampagnen zu starten, nutzt die gleiche Dynamik, die wir so oft in der Geschichte gesehen haben: Wenn man sich darauf einigen kann, wen man hasst, kommt man zusammen. Aber wenn man selbst an die eigenen Herausforderungen zurückdenkt, die man im eigenen Leben überwunden hat - im Alter von 3 Jahren eine Sandburg bei Gegenwind bauen, mit 19 die eigene Nervosität überwinden für den Ferienjob im Eisladen oder das Renovieren einer Wohnung im Alter von 34 Jahren - wurden diese Probleme gelöst, weil es einen gemeinsamen Feind gab? Viel wahrscheinlicher gab es die Vorstellung einer Sandburg, eines Lebens mit diesem bestimmten Job oder der ersten eigenen Küche, die motiviert hat.
Zwar untermauern abstrakte Dinge wie Werte oder Emotionen unser Bild von der Zukunft, aber wir brauchen alle einen sehr konkreten Farbtopf, um eine Renovierung zu beginnen. Diese Verbindung von Werten und konkretem Handeln wird heute von unzähligen jungen Menschen hergestellt. In Hamburg arbeitet Martin Auer, 23 Jahre alt, an einer Stadt, die junge Menschen in die Entscheidungsfindung einbezieht. Er setzt sich für einen Jugendhaushalt ein, über den die nächsten Generation entscheidet. In Boston, in den Vereinigten Staaten ist das bereits Realität. Sei es mehr Bäume auf dem Stadtplatz oder jede andere Veränderung, die Entscheidungen über dieses Budget werden von der Generation getroffen, die am längsten damit leben wird. Oder Adelina Vynnik-Krupchan, 20 Jahre alt, die kürzlich aus der kriegszerrütteten Ukraine nach Hamburg gekommen ist und die Hansestadt als eine willkommen heißende Stadt sieht. Dafür sie nutzt die gleichen Kommunikationsmittel, die ihr selbst bei ihrer Ankunft geholfen haben: Insta Reels. Auch Quint Aly, 25 Jahre alt, schreckt nicht vor einem schwer zugänglichen Justizsystem zurück, sondern arbeitet aktiv daran, den Zugang zur Justiz zu verbessern. Er sucht derzeit nach den richtigen Partnern, um Recht durch Augmented Reality buchstäblich sichtbar zu machen. Dies sind nur drei Beispiele von jungen Menschen in einer Stadt in Deutschland. Und es gibt Hunderte mehr, wenn nicht Tausende. Dies sind die 78 Prozent, auf die wir uns konzentrieren müssen.
Sich auf die vielen jungen Menschen zu konzentrieren, die eine positive Vision für sich selbst, ihre Freunde, Familie und für die Gesellschaft entwickeln, ist jetzt notwendig. Bedeutet das, dass die 22 Prozent, die sich zu autoritären Ideen hingezogen fühlen, vernachlässigt werden sollen? Das wäre ein großer Fehler. Doch ihnen zu sagen "was du denkst, ist falsch" wird nicht die Brücke bauen, die nötig ist. Sie mit den 78 Prozent zu verbinden, die eine kraftvolle Vision und ein Potenzial für positive Veränderungen sehen, hingegen schon.
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