Drei Halbzeiten für mehr Teilhabe

Dieser Artikel wurde im FOCUS Online Magazin veröffentlicht. Den Originalartikel findest du hier

Young person speaking into a microphone

Ein warmer Vormittag im Mai. Am Millerntor des FC. St-Pauli wird heute Fußball gespielt. Erstmal nichts Ungewöhnliches für ein Fußballstadion. Bei näherem Hinsehen aber doch: Drei Hamburger Stadtteilschulen treffen hier heute bei einem Straßenfußballturnier aufeinander. Nach welchen Regeln sie spielen, bestimmen die teilnehmenden 5. und 6. Klassen selbst. Schiedsrichter:innen gibt es keine, auch das regeln die Schulkinder unter sich. Genauso wie die Moderation, Musikauswahl, Aufbau und Organisation des Turniers - alles liegt in ihrer Verantwortung. Lehrkräfte sind zwar da, heute aber nur als Zuschauende. So sehen sie auch wie überraschend gut das Aufwärmen mit dem Spielklassiker „Schere, Stein, Papier“ funktioniert. Immer zwei Kinder spielen das Handspiel gegeneinander aus, wer gewinnt geht ins nächste Match – wer verliert, hat zur Aufgabe den oder die vorherige:n Kontrahent:in anzufeuern. Das geht so lange bis am Ende ein Gewinner überbleibt. Bejubelt von allen, ohne Diskussionen oder Missgunst.  Keine Selbstverständlichkeit, denn auf dem Platz stehen Jungen und Mädchen bei denen Streit und Gewalt auf dem Pausenhof keine Seltenheit sind. Heute aber ist alles friedlich – nicht nur beim Warm-up. Das liegt auch an KICKFAIR  dem Bildungsprojekt, das zusammen mit der Kampagne #CommonGround24 zu diesem Turnier eingeladen hat.

KICKFAIR ist eine von Ashoka-Fellow Steffi Biester 2007 gegründete gemeinnützige Organisation. Die Idee: Beim Straßenfußball erfahren junge Menschen spielerisch die Bedeutung von Werten und Kompetenzen wie Fairness, Teamarbeit oder Konfliktlösung. Sie lernen Verantwortung für sich und ein gleichberechtigtes Miteinander zu übernehmen. Der Schlüssel dazu ist das Prinzip der drei Halbzeiten. In einer ersten Halbzeit bestimmen die Teilnehmenden die Regeln, nach denen in der zweiten Halbzeit gespielt wird. Die Dritte und letzte Halbzeit wird für die Reflexion genutzt: Was lief gut, was klappt nicht? Eigentlich simpel – es bedeutet aber vor allem, Jugendliche als Hauptpersonen mit ihren Ideen und Vorstellungen in den Mittelpunkt zu stellen, ihnen Verantwortung zuzutrauen und diese Prinzipien weit über den Spielfeldrand hinaus in Bildungsprozesse und die Schulkultur zu übertragen. Verschiedene Rollen, sei es im Organisationsteam, als Mediator:in oder Moderator:in, können von den Kindern und Jugendlichen frei gewählt werden. In diese Rollen dürfen die Schüler:innen reinwachsen. „Der Kern von KICKFAIR ist, die Jugendlichen mit ihren Perspektiven ernst zu nehmen, gleichberechtigte Beteiligung zu ermöglichen und in die persönliche Entwicklung zu vertrauen. Die Jugendlichen geben weiter, was sie selbst erfahren haben“, erklärt Steffi Biester die Idee hinter dem Projekt und spricht damit auch eine weitere Besonderheit von KICKFAIR an: Zum Erfahrungen Sammeln und Weitergeben braucht es Zeit – und die bringen das Projekt und die Schulen mit. Kommen die Schüler:innen in der 5. Klasse das erste Mal als Spielende bei einem Turnier in Kontakt mit dem Programm, organisieren sie in den Folgejahren das Turnier für die jüngeren Jahrgänge selbst und können Jahr für Jahr mehr Aufgaben übernehmen und zu sogenannten Youth Leadern werden, die auch außerhalb der eigenen Schule für KICKFAIR im Einsatz sind.

So wie die Youth Leader aus ganz Deutschland, die an diesem sommerlichen Frühjahrstag in Hamburg das Turnier gemeinsam mit den Schüler:innen der Max-Schmeling-Stadtteilschule und der Ilse-Löwenstein-Schule auf die Beine stellen. Einer dieser Youth Leader ist der 19-jährige Jarron Denkler. Er ist fünfeinhalb Stunden von Erlangen nach Hamburg gefahren, um dabei zu sein. Kennengelernt hat er KICKFAIR als Schüler der Eichendorffschule Erlangen. „Vor meiner Zeit bei KICKFAIR war ich ein sehr schüchterner Mensch, habe wenig geredet. Durch das Mitwirken im Projekt habe ich gelernt Verbindungen einzugehen und finde es heute unfassbar schön, jüngeren Kindern etwas mitgeben zu können“, so Jarron Denkler. Inzwischen, so sagt er, gehöre das KICKFAIR-Konzept überall zu seinem Alltag: „Es geht um gegenseitigen Respekt. Egal ob jemand 20 Jahre älter oder fünf Jahre jünger ist, ich begegne ihm auf Augenhöhe und nehme ihn mit seiner Meinung ernst. Niemand steht unter oder über einer Person.“

Während seine frühere Schule bereits seit 2013 mit KICKFAIR zusammenarbeitet und inzwischen das Prinzip der drei Halbzeiten auf den gesamten Schul- und Lernprozess übertragen hat, steht die Max-Schmeling-Stadtteilschule, die heute am Straßenfußballturnier am Millerntor teilnimmt, noch am Anfang ihrer KICKFAIR-Reise. Die beiden Sport- und Gesellschaftskunde-Lehrer Adrian Wagner und Enrico Wessoly haben das Programm vor zwei Jahren an die Schule im Hamburger Osten geholt. Eine Schule mit KESS-Faktor 1 – nach dem Hamburger Sozialindex für Schulen bedeutet das eine Schülerschaft die chancenbenachteiligt und oftmals von sozialer Ausgrenzung betroffen ist. In den Worten der Lehrkräfte heißt das: „Viele Schüler:innen haben ihre Päckchen zu tragen.“ Mit dem Straßenfußball wollen sie die Jugendlichen vor allem aus ihren eingefahrenen Rollen herausholen, ihnen neue Perspektiven bieten – auch auf sich selber. „Wenn ich mit meinen Buddys zusammen bin, dann muss ich funktionieren, wie die Gruppe das erwartet, sonst bin ich raus. Die Gruppendynamik spielt in dem Alter eine große Rolle“, so Adrian Wagner. „Was wir mit KICKFAIR machen, ist ihnen ein Fenster in ein alternatives Miteinander zu öffnen, das ihnen ermöglicht, andere Seiten von sich kennenzulernen und das ihnen vielleicht Wochen, Monate oder auch Jahre später den Mut gibt, zu sagen: ‘Es geht auch anders und es liegt an mir, in welche Richtung sich mein Leben entwickelt.‘ “ Dieses Fenster sieht in der Stadtteilschule so aus, dass bis zu 25 Schüler:innen in Klasse 8 und 9 ein KICKFAIR-Profil wählen können. An den wöchentlichen Profiltagen spielen sie Fußball, besprechen die selbstgewählten Regeln und übertragen Erfahrungen vom Spielfeld auf aktuelle Themen und Konfliktfelder in der Schule. So fühlen sich die Jugendlichen fähig teilzuhaben und eingeladen selbst Lösungen zu entwickeln.

Dass die ersten zwei Jahre mit dem neuen Profil erste Früchte tragen, konnten die beiden Lehrer bereits beobachten. Bei einem Völkerballturnier an der Schule kam es zwischen den fünften Klassen zu einem Streit. Schlichten mussten nicht die Lehrkräfte – das erledigten ganz selbstverständlich die 8. Klässler:innen, die das KICKFAIR-Profil belegten. „Bei aller Freiheit, die KICKFAIR bietet, ist es eben nicht komplett regelfrei. Aber die jungen Leute entscheiden selbst, woran sie sich halten wollen. Und das ist eine ganz andere Nummer“, so Wagner. Auch Enrico Wessoly ist sich sicher: „Die Schüler:innen lernen über das Prinzip der drei Halbzeiten Verantwortung zu übernehmen, sich einzubringen und für ihre Werte einzustehen. Ein Turnier wie heute bringt sie wieder ein Stückchen weiter. Daran wachsen sie.“

Und das ist ihm tatsächlich zu glauben: Das Turnier am Millerntor neigt sich langsam dem Ende zu. Nach dem letzten Spiel des Turniers sitzen Team Pink und Team Grün im Schatten zusammen und besprechen, ob die selbst gesetzten Regeln - nicht schubsen, nicht bolzen und gegenseitiges Aufhelfen – von beiden Seiten gleichermaßen eingehalten wurden. Nach Toren führt Team Pink 2:1. Zwar wurden auf beiden Seiten Schubser beobachtet - aber eben auch helfende Hände. In beiden Mannschaften ergibt die demokratische Abstimmung, dass das jeweils andere Team alle drei Fairnesspunkte bekommt. Damit gewinnt das pinke Team mit 5:4. Bei einem Turnier wie diesem ist das aber eigentlich nebensächlich.